Replik: Warum die Individualbesteuerung notwendig, gerecht und zukunftsweisend ist

* Die Debatte um die Individualbesteuerung wird von Gegnern häufig auf einer ideologischen Ebene geführt. * Dies hat auch ein kürzlich publizierter Kommentar auf diesem Medium verdeutlicht. * Dabei geht es in Wahrheit um eine faire, zeitgemässe und transparente Steuerordnung, die den unterschiedlichen Lebensrealitäten von Menschen in der Schweiz gerecht wird.

Lisa Vincenz Egger
  •  

Veröffentlicht am

22.9.2025

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KOMMENTAR

Replik Lisa Vincenz Egger Individualbesteuerung

(Hinweis der Redaktion: Diese Replik bezieht sich auf den Gastkommentar von Raphael Berger vom 17. September 2025.)

1. Ehe und Familie bleiben bestehen – die Steuerordnung definiert sie nicht

Die Behauptung, die Individualbesteuerung löse die Ehe als «Wirtschaftsgemeinschaft» auf, vermischt bewusst gesellschaftliche Institutionen mit steuertechnischen Fragen. Die Ehe ist eine rechtliche und emotionale Bindung zwischen zwei Menschen – sie besteht unabhängig davon, wie die Steuerbehörden Einkommen berechnen. Heute benachteiligt das System verheiratete Paare mit zwei Einkommen gegenüber unverheirateten Paaren. Dass man diesen Missstand beseitigt, schwächt nicht die Ehe, sondern stärkt die Gleichbehandlung.

2. Fairness bedeutet: Jede Person wird für ihr Einkommen besteuert

Die Individualbesteuerung stellt ein einfaches Prinzip ins Zentrum: Jede erwachsene Person trägt gemäss ihrem individuellen Einkommen zur Finanzierung des Staates bei, oder anders gesagt: Jede Person ist gemäss ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu besteuern (wie es die Bundesverfassung in Art. 127 festhält). Dieses Prinzip verhindert, dass ein Partner – oft die Frau – steuerlich als «Zuverdienerin» behandelt wird und sich die Erwerbstätigkeit für sie kaum lohnt. Wer erwerbstätig sein will, soll nicht durch steuerliche Fehlanreize davon abgehalten werden. Das ist weder «familienfeindlich» noch «ideologisch», sondern schlicht gerecht.

3. Mehr Belastung für Einverdiener-Ehen? – Nur ein Teilbild

Gegner zeichnen gerne das Bild des «traditionellen Einverdiener-Ehepaars», das durch die Individualbesteuerung stärker belastet werde. Dabei wird übersehen: Die Reform bringt für die grosse Mehrheit der Bevölkerung Entlastungen, vor allem bei tiefen und mittleren Einkommen – rund 50 Prozent der Personen werden steuerlich entlastet (vorwiegend jene, die heute eine Heiratsstrafe und schlechte Erwerbsanreize haben), 14 Prozent moderat mehr belastet (jene, die heute einen hohen Heiratsbonus haben; das sind insbesondere Einverdienerpaare mit sehr hohem Jahreseinkommen von 400’000 Franken und mehr), rund 36 Prozent sind nicht betroffen. Zudem werden Kinderabzüge und Tarifkorrekturen eingeführt, um Familien gezielt zu unterstützen. Der Bundesrat hat klar aufgezeigt, dass Familien mit mehreren Kindern im Durchschnitt nicht schlechter, sondern oft besser dastehen werden.

4. Individualbesteuerung als logische Weiterentwicklung

Das heutige Steuersystem basiert noch auf dem Familienmodell der Nachkriegszeit: Die Frau gibt nach der Heirat die Erwerbstätigkeit für den Rest (oder einen Grossteil) ihres Lebens auf und wird ab der Heirat entsprechend auf der Steuerrechnung ihres Ehemannes als «Person 2» veranlagt und verkommt damit zum Anhängsel des Ehemannes.

Heutzutage sind viele Frauen trotz Heirat und Kindern erwerbstätig, gut ausgebildet und gefragte Fach- und Arbeitskräfte. Ihre Arbeit lohnt sich aber nicht: Die heutige gemeinsame Veranlagung der Ehepaare führt dazu, dass das Einkommen der Frauen – in der Regel sind sie die Zweitverdienenden – zu einem deutlich höheren Steuersatz besteuert wird, als dies bei einer individuellen Veranlagung der Fall wäre. Indem ihr Einkommen so einer ungleich höheren Progression unterliegt, lohnt sich unter Berücksichtigung von Kinderdrittbetreuungskosten und Steuern eine Erwerbstätigkeit für sie kaum mehr.

Zeitachse:

  • 1971 Frauenstimmrecht
  • 1984 Bundesgerichtsentscheid: Die Heiratsstrafe müsse abgeschafft werden. Wenn sich die Steuerlast von Konkubinats- und Ehepaaren um mehr als zehn Prozent unterscheidet, gilt das als diskriminierend
  • 1988 neues Eherecht (der Mann ist nicht mehr länger Haushaltsvorstand und bestimmt nicht mehr über Erwerbstätigkeit der Ehefrau)
  • 2021 Bundesgerichtsentscheid: Die Ehe ist keine Lebensversicherung mehr. Nach einer Trennung müssen Frauen wirtschaftlich eigenständig werden

Seit 1971 haben Frauen ihre eigenen Stimmzettel und ihr Stimmrecht. Es ist Zeit, ihnen die eigene Steuerprogression und Steuererklärung zu erteilen und sie zu mündigen Steuersubjekten zu erklären; umso mehr, als das Bundesgericht von ihnen einfordert, wirtschaftlich eigenständig zu bleiben. Die Individualbesteuerung ist also die logische Konsequenz von Frauenstimmrecht, neuem Eherecht und Bundesgerichtsentscheid, wonach die Ehe keine «Lebensversicherung» mehr darstellt. Sie setzt konstant positive Beschäftigungsanreize für beide Einkommen, unabhängig vom Verdienst des Partners respektive der Partnerin.

5. Volkswirtschaftliche Notwendigkeit: Mobilisierung von Arbeitskräften

Die Schweiz steht vor einem Fachkräftemangel, der ohne Zuwanderung nicht zu bewältigen ist. Gerade gut ausgebildete Frauen arbeiten heute oft nur Teilzeit oder gar nicht, weil sich eine Ausweitung des Pensums steuerlich kaum lohnt. Die Individualbesteuerung setzt positive Erwerbsanreize und trägt dazu bei, inländisches Potenzial besser zu nutzen. Das ist nicht «sozialistisch», sondern ökonomisch rational und im Interesse der gesamten Gesellschaft.

Die beschlossene Variante hat das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis: Auf allen drei Staatsebenen eingeführt, resultieren gemäss Schätzungen des Bundesrats bis zu 44’000 (Botschaft, resp. plus 40’000–50’000 Ecoplan) zusätzliche vollzeitäquivalente Personen, die ihre Erwerbstätigkeit im Arbeitsmarkt anbieten, weil sich Arbeit für sie neu lohnt. Dies, weil der Grenzsteuersatz, der das zweite Einkommen belastet, nicht steigt, sondern durch die individuelle Veranlagung bei Null beginnt. Die Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen dieser zusätzlichen Beschäftigten tragen massgeblich dazu bei, die anfänglichen Mindereinnahmen der Reform zu reduzieren.

6. Vereinfachung des Steuersystems

Niemand kommt bereits verheiratet zur Welt. Rund 50 Prozent heiraten mindestens einmal vor ihrem 50. Geburtstag (BFS Heiratshäufigkeit). Zu diesem Zeitpunkt müssen die Steuerdossiers zusammengelegt werden. Danach trennen sich wieder etwa 40 Prozent der Verheirateten, und die Steuererklärungen müssen wieder getrennt werden (BFS Scheidungshäufigkeit). Dasselbe gilt, wenn der Lebenspartner resp. die Lebenspartnerin stirbt. Insgesamt bedeutet das aktuelle System mehrere Umstellungen. Ja, direkt nach der Einführung der Individualbesteuerung müssen die Steuererklärungen von verheirateten Ehepaaren einmalig (!) getrennt werden. Die Digitalisierung und die damit einhergehende Automatisierung hilft aber entscheidend. Die Befürchtungen eines bürokratischen Mehraufwandes waren bereits bei der Umstellung der zweijährlichen zur jährlichen Veranlagung der Steuererklärung gross – die Umstellung verlief dann aber problemlos. Zudem fallen die Querbezüge weg, da Paare unabhängig voneinander veranlagt werden können (heute müssen auch Konkubinate mit Kindern voneinander abhängig veranlagt werden).

7. Kinderwohl und Bindung werden nicht durch Steuerfragen entschieden

Es ist irreführend, die Diskussion über Bindungsforschung und Kinderentwicklung in die Steuerfrage hineinzutragen. Eltern – Mütter wie Väter – entscheiden eigenverantwortlich, wie sie ihre Kinder betreuen wollen. Der Staat schreibt ihnen keine Betreuungsform vor. Aber er darf auch nicht über das Steuerrecht einseitig ein bestimmtes Familienmodell privilegieren und andere benachteiligen. Wer wirklich Wahlfreiheit für Familien will, unterstützt die Individualbesteuerung.

Fazit

Die Individualbesteuerung ist weder ein Angriff auf die Ehe noch auf die Familie, sondern ist zielgenau: Entlastet werden mit der Vorlage von Bundesrat und Parlament genau jene, welche auch die Gegner eigentlich entlasten wollen: Verheiratete Doppelverdienende, welche von einer Heiratsstrafe betroffen sind, also unter denselben Einkommensverhältnissen unverheiratet weniger Steuern bezahlen würden. Die Individualbesteuerung ist eine überfällige Anpassung an die Realität des 21. Jahrhunderts: gerechter, transparenter, freiheitsfreundlicher. Sie stärkt die Gleichbehandlung aller Lebens- und Familienformen, fördert die Eigenverantwortung und hilft der Schweiz, dringend benötigte Arbeitskräfte besser zu mobilisieren. Das ist kein ideologisches Projekt, sondern ein zukunftsorientierter Schritt hin zu mehr Fairness und Freiheit.

Über die Autorin
Lisa Vincenz Egger ist Co-Präsidentin der FDP Frauen Kanton St.Gallen und arbeitet als Rechtsanwältin.

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